Über den Anschlag in Berlin zu schreiben, ist kein leichtes Unterfangen.
Zu schnell verliert man sich in polarisierenden Aussagen, in deutlich empathielosen Phrasen und in der Gefahr, laut Anderen nicht richtig mit der Situation umzugehen.
Zunächst einmal sei gesagt, dass ich sehr glücklich bin, dass meine Liebsten in Berlin unverletzt blieben, und ich tiefstes Beileid für die Menschen empfinde, die dieses Glück nicht empfinden durften. Ich für meinen Teil habe mich in sozialen Netzwerken zunächst deutlich zurückgehalten, bin in mich gegangen und habe überlegt, was es überhaupt zu sagen gibt.
Ich sah Menschen in diesen Netzwerken, die Andere für ihre Art, die Geschehnisse zu verarbeiten, verurteilten. Ob es nun Facebook-Profilbilder, Videos oder selbstbezogene Sätze waren, das alles ist mir nur Recht und schadet sicherlich weniger Menschen, als all die Anfeindungen und die Wut, die diesen Trauerarten entgegen gebracht wurden.
Was allerdings schadet, was mich nicht kalt ließ, und was relativ schnell den Nerv traf, der mich tweeten, posten und nun schreiben ließ, waren die Reaktionen, die angeblich die größte Betroffenheit ausdrücken sollten. Es waren solche wie Pretzells "Merkels Tote", aber sie fanden sich auch in den kleinen Männern und Frauen Deutschlands und des Auslands. All diese kleinen, unbedeutenden Menschen zusammen wachsen zu einem Mob an, der an Bedrohlichkeit schon lange nicht mehr zu unterschätzen ist.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis nach der Bekanntgabe der Berliner Vorkommnisse die ersten Gerüchte streuen, es dauerte keine Sekunden, bis Menschen in sozialen Netzwerken von einem islamistischen Terroranschlag ausgingen und Merkel die Schuld gaben. Das alles ist ehrlich gesagt wenig überraschend, und wenn man so will, lohnt es sich kaum, darüber zu schreiben. Vor Allem nicht mit einer Leserschaft von unter 20 Menschen. Andererseits, so denke ich, ist jeder Beitrag, so klein er auch sein mag, der sich dagegen auflehnt, gerechtfertigt und wichtig.
Man möge sich einmal die Absurdität der Forderung vor Augen führen, die Grenzen sollen geschlossen werden. Die aktuellen Zahlen der sich tatsächlich in Deutschland befindenden Asylsuchenden sind schwammig, liegen aber bei um die 1-1,5 Millionen. Auf 1,25 Millionen Asylbewerber kommen im Jahre 2016 vier Anschläge, die vermeintlich (!) auf Kosten islamistischer Attentäter gehen: Essen im April, Würzburg und Ansbach im Juli, Berlin im Dezember. Ob die Attentäter an dieser Stelle Asylbewerber waren und/oder Asyl bekommen hätten, ist nicht einmal klar nachzuweisen - aber selbst, wenn wir davon ausgehen, dass es so wäre, so stünde die Wahrscheinlichkeit, eines Asylsuchenden, einen Terroranschlag zu begehen, bei 1:312 500. Na, wenn das mal kein Grund ist, die Grenzen für 312 499 Menschen zu schließen und in Kriegsländern, dessen Alltag wir uns nicht einmal im Geringsten vorstellen könnten, sterben zu lassen.
Natürlich fordert nicht jeder die Schließung der Grenzen. Viele wollen einfach nur einmal loswerden, dass das alles Merkels Schuld ist. Ganz oben mit dabei: Mitweltler aus anderen Regionen wie Nordamerika. Der Hashtag #BerlinAttacks war auf Twitter nicht mehr als eine Ansammlung von Predigern, die die deutsche Innenpolitik zu verurteilen versuchten, was angesichts der Zahl der islamistischen Anschläge in den USA dieses Jahres von gewisser Ironie zeugt. Auch alles Merkels Schuld.
Ich will nicht einmal bestreiten, dass die Aufnahme von Asylsuchenden in einem Land die Gefahr erhöht, islamistisch gesinnte Menschen darunter zu finden. Sprechen wir hier aber vom Islamischen Staat, so halte ich es für naiv, zu glauben, das Schließen der Grenzen oder eine strenge Asylpolitik würde diesen abhalten, ihren Zielen auch in Deutschland einen Weg zu geben. Die letzten Jahre waren die Glanzjahre des IS, nicht zuletzt deshalb war die Aufnahme von Flüchtenden immer wichtiger. Als weltpolitisch relevantes und wirtschaftlich nicht schwaches Land war abzusehen, dass mit steigender Macht der islamistischen Terrorvereinigung Deutschland ein Ziel werden würde, ungeachtet dessen, ob nun null, 20 000 oder 80 Millionen Asylbewerber in Deutschland "leben". Zu glauben, geschlossene Grenzen würden Terroristen davon abhalten, ihre Wege zu finden, ist in meinen Augen schon fast lachhaft.
Zuletzt wird die Berichterstattung der deutschen Medien meist in die Richtung kritisiert, dass islamistischer Terror verharmlost, beziehungsweise vertuscht würde. Meist ist dies darauf aufgebaut, dass Informationen zu Verdächtigten, die dessen Herkunft verrieten, sehr spät herausgegeben würden. Mal abgesehen davon, dass ich dieses Gefühl in Krisensituationen nicht habe und mit Großteilen der Massenmedien in solchen ehrlich gesagt recht zufrieden bin, ist es in meinen Augen nicht verwunderlich, dass es einigen wohl "zu spät" ist. Wer eine Sekunde nach der Eilmeldung Berlins schon von einem islamistisch motivierten Terroranschlag eines Geflüchteten ausgeht, zu einem Zeitpunkt, an dem nicht einmal sicher ist, ob nicht ein betrunkener Deutscher seine Currywurst aus Versehen in den Fußraum hat fallen lassen und die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor, der will wohl auch, dass wir jetzt schon mal festhalten, dass der nächste Terroranschlag in 15 Jahren ganz sicher auf Kosten von Abdel X, Asylbewerber aus dem Jahre 2030 geht.
Letztlich gibt es noch viel zu sagen und zu denken zu dem, was gerade in der Welt und in Deutschland in den Köpfen vieler Menschen passiert. Ich könnte sicher noch Stunden an diesem Post schreiben, aber letztlich wird es leider nichts ändern: Wir leben in postfaktischen Zeiten und ich verachte das Wort "postfaktisch" - denn es steht für all die Dinge, die ich nicht leiden kann: Für Populismus, viel zu emotionale Politik, subjektive Meinung und Wut, Hass und noch mehr Wut.
Sicher bin ich nicht der neutralste und rein faktengetriebenste Mensch der Welt. Ganz sicher gibt es Dinge an der Asylpolitik, die nicht so einfach zu feiern sind und die Veränderung, kluge Köpfe und Dialog bedürfen. Und zwar in beide Richtungen.
Und dennoch ist es so: An manchen Tagen beziehe ich gerne Stellung, um einen Gegenpol zu bilden. Die Stimmung dieses Landes ist so instabil, dass es mir Sorge bereitet. Nicht unser Asylrecht und nicht der IS sind es, die das Zusammenleben so destabilisieren, sondern die Menschen, die Tod und Terror für ihre eigenen Zwecke nutzen, Bedauern predigen und Hass praktizieren, die anstatt Menschlichkeit und Nähe, die in diesen Tagen mehr als alles andere benötigt werden, Distanz wahren und weiter ausbauen.
Und da so gerne auf dem Satz "Wir schaffen das!" herumgeritten wird (auch ich bin weiß Gott kein Merkel Fan, aber): Mit diesem Satz war nie gemeint, dass Merkel 80 Millionen Menschen eine Heimat geben möchte und das alleine auf die Kette kriegt. Mit diesem Satz war vielleicht einfach gemeint, dass man eine schwierige Situation womöglich gemeinsam stemmen kann. Nicht, dass man darauf rumhacken sollte, weil vielleicht nicht alles perfekt ist, gegen andere, Mitbürger, Vielleicht-Bald-Mitbürger oder Vielleicht-Nie-Mitbürger hetzen und hassen sollte, bis alles von innen zerstört ist. Und die einzigen, die alleine bleiben, für die keiner ein liebes Wort übrig hat, sind die Hinterbliebenen der unzähligen Terror- und Kriegsopfer, nicht nur in Berlin - überall in der Welt.
Um mit einem BRKN Zitat abzuschließen:
"Vielleicht braucht jeder Krieg einen dritten, der die Hinterbliebenen hält"